Gedanken am Ende des 17ten internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2024
Es ist gute Tradition, dass die deutsche Gesellschaft für Semiotik bei ihren internationalen Kongressen auch führende Vertreter:innen relevanter Fachdisziplinen einlädt, so zum 2024er Thema „Zeichen, Digitalität, Kulturen“ z.B. Informatiker:innen und Bildungswissenschaftler:innen. Auf der anderen Seite mache ich die Beobachtung, dass praktisch jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler zumindest zur/m Proto-Semiotiker:in wird, wenn sie bzw. er den fachlichen Fokus so einstellt, dass sich stabilisierende Zeichenprozesse und Zeichensysteme in den Blick kommen. Das kann man nun beispielhaft bei Steffen Mau und seinen Kolleg:innen beobachten, wenn sie ihre „Triggerpunkte“ herausarbeiten, die nichts anderes sind als Schlüssel-Zeichenprozesse. Auch Tom Hollands dicker Bestseller zu „Herrschaft“ ist über weitere Strecken ein Nachdenken über semantische Auslegungen christlichen Denkens und ihre pragmatischen Folgen. Ich will jetzt hier keinesfalls den – im Rückblick vielleicht sogar etwas peinlichen – Wissenschaftsimperialismus der Semiotik der 60er und 70er wieder aufleben lassen. Ich möchte daraus vielmehr eine Frage oder Forderung an die Semiotik als Disziplin ableiten. Ist es nicht spannend herauszufinden, was passiert, wenn man Wissenschaftler:innen, die sich Zeichenphänomen nähern, die Werkzeuge der Semiotik anbietet und dann gemeinsam schaut, was passiert? Sollten nicht die über die lange Tradition kritischer Diskussionen geschärften Werkzeuge bessere, neuere oder weitere Erkenntnisse herausschälen als es die Fachwissenschaften mit ihren Adhoc-Methoden schaffen? Und sollte nicht das Feedback der Fachwissenschaftler:innen zu den angebotenen Werkzeugen der Semiotik wichtige Anregungen zur Reflektion ihrer Begriffe und Theorien liefern?
Wenn wir jetzt mal die o.g. populärwissenschaftlichen Bestseller beiseite lassen und uns dem Kernthema des 2024er DGS-Kongresses, der Digitalität, zuwenden, das größtenteils dann noch auf das Feld der KI konzentriert wurde, was passiert dann oder was würde dann passieren? Das aktuell zentrale Konzept hinter dem Boom der sogenannten KI sind die LLM, die Large-Language-Modells. Auch zentral: die Aufsplittung von Sätzen und Wörtern in sogenannte Tokens – die sogar die Grundlage des Abrechnungsmodells, costs per token, liefern. Als letztes sei herausgegriffen, dass hinter der erstaunlichen und leistungsfähigen Performanz der aktuellen KI-Angebote der Ansatz steht, dass sich Bedeutung über den statistischen Durchschnitt großer Mengen von Äußerungen ermitteln lässt.
Ich hoffe hier wird klar, was ich meine, wenn ich sage, dass es sehr fruchtbar sein könnte, wenn sich Proto-Semiotiker:innen und Profi-Semiotiker:innen zusammentun. Auf dem 2024er DGS-Kongress zu Zeichen, Digitalität, Kulturen konnte man das in Ansätzen gut erkennen. Fachwissenschaftler:innen eröffneten einen tiefen Einblick in ihr Tun und wo da Zeichennutzungen eine Rolle spielen. Gerade die jungen Semiotiker:innen machten sich daran relevante Gesellschaftsphänomene semiotisch zu untersuchen, mit sehr erhellenden Ergebnissen. Die eher etablierten Semiotiker:innen gingen für meinen Geschmack immer noch zu sehr ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, semiotische Klassiker miteinander zu vergleichen, ohne daraus dann Konsequenzen für das semiotische Arbeiten oder gar für drängende Gesellschafts- und Weltfragen zu ziehen. Und hier liegt für mich auch das noch ungenutzte Potential der institutionellen Semiotik. Ihre Interdisziplinarität muss im Disziplinaritäts-Teil besser ausgearbeitet werden. Es muss dauerhafter und zielorientierter und in Teams gearbeitet werden. Und sie muss sich an drängendere, größere Fragestellungen heranwagen.
Semiotik kann Antworten auf die großen Fragen der Digitalisierung liefern
Digitalität erschöpft sich für Semiotiker:innen zu oft in Social Media Oberflächen-Phänomenen. Wie interessant kann die zwanzigste Analyse eines Memes schon sein? Antwort: Ja. Wäre es nicht spannender zu verfolgen, was den medialen Diskurs, die medialen Zeichenprozesse und Zeichensysteme, zur sogenannten KI, von anderen früheren Digitalhypes von der Social Economy über das Metaverse bis zu Blockchain unterscheidet und was nicht? Sollten Semiotiker:innen nicht wissenschaftlich begleiten, was bei der Anlage und Verarbeitung der Data Lakes passiert, die die Grundlage der LLMs bilden? Bzw. wenn diese als Betriebsgeheimnisse des Silicon Valley unerreichbar sind, sollten nicht eigene semiotische Forschungs-Daten-Seen angelegt werden? Aufbauend auf den Erfahrungen, die man mit verschiedenen Zeichen-Corpora schon hat. Sollten wir als Semiotik nicht der Interpretativität nachspüren, die in so vielen vermeintlich objektiven Berechnungen der KI-Anwendungen liegt und sich in dem für viele so gleichermaßen ehrfurchtgebietenden wie abschreckenden Begriff Stochastik versteckt? Womit wir bei einem meiner Lieblingsthemen: der Semiotik des Consultings bzw. der Consulting-Technologie wären.
Semiotik als die Wissenschaft der VUCA-World
Semiotik ist eine kleine Wissenschaft aber sie ist gerade in unserer VUCA-World, in einer volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt, hoch anschlussfähig und kann wie ein Katalysator wirken.
Sie hat mit den wechselnden Blicken auf Zeichenphänomene als Kern-Methode Interdisziplinarität in ihrer DNA. Sie hat Zeichenphänomene als Kern-Gegenstand, was sie zur VUCA-Wissenschaft prädestiniert. Und sie kann im Austausch mit anderen Disziplinen, die ihrerseits auf Zeichenphänomene stoßen, bewährte und elaborierte Konzepte und Methoden zur Verfügung stellen und diese dann – wahrscheinlich besser als in weiteren intrasemiotischen Textexegesen – weiterentwickeln.