Auf der Suche nach der richtigen Interpretation in digitalen Zeiten
Mit zwei widersprüchlichen Phänomenen müssen alle Menschen und Organisationen kämpften, die heutzutage über digitale Medien kommunizieren – wollen oder müssen. Zum einen der Effekt der extremen Verdichtung. Sachverhalte werden auf ein Bild oder wenige Sekunden reduziert. Ob es das Leid von Pferd und Reiterin beim Modernen Fünfkampf in Tokyo war oder das Feixen des Kanzlerkandidaten bei der Flutkatastrophe. Zum anderen läuft jede digitale Äußerung Gefahr, aus allen Blickwinkeln analysiert zu werden und Quell unzähliger Anmerkungen und Assoziationen zu sein. Der aktuelle Wahlkampf steuerte reichlich Anschauungsmaterial bei. Ob es der vermeintlich falsche Schmutz im Gesicht des Bergwerkbesuchers Laschet war oder vielleicht fehlende Quellen im Buch von Annalena Baerbock.
Grundsätzlich ist beides nichts Neues, sondern die Kernfunktionen jedes Zeichens:
- Die Reduzierung und Versammlung umfangreicher Inhalte im Extrem auf ein ganz einfaches Zeichen. Das STOP-Schild steht nicht nur für umfangreiche Inhalte aus der Straßenverkehrsordnung. Sondern es steht auch für komplexe technische und juristische Überlegungen, die zur Einführung dieses Zeichen geführt haben. Ferner bündelt es die konkreten administrativen Prozesse, die zu einer Aufstellung genau an dieser bestimmten Stelle führten. So sollen Zeichen funktionieren.
- Gleichzeitig kann ein einziges Zeichen – wie z.B. die Nennung des Namens Christiano Ronaldo – eine Flut von positiven oder negativen Gedanken auslösen. Ein Ideal, das gerade Markenartikelunternehmen oft verzweifelt versuchen zu erreichen. Aber in diesem Extrem ist es nur wenigen Werken und Personen des Zeitgeschehens oder der Kunst- und Kulturgeschichte vergönnt.
Vielfalt der Interpretation von Zeichen: Bug or Feature?
Warum wird aber jetzt die grundsätzliche und unhintergehbare Funktionsweise von Zeichen in der digitalen Welt zum Problem? Und können wir diesem Problem aus dem Weg gehen?
Vielleicht sollten wir ja ein Stück zurücktreten und uns fragen, ob es überhaupt ein Problem ist? Oder ist das nur das übliche Weltuntergangsgerede? Die Alten klagen über die Jungen, die mit ihrem Verhalten, ihrem Medienkonsum, ihrer fehlenden Bildung die Welt zugrunde richten. Und das tun sie seit 2.000 Jahren. Verlieren nicht tatsächlich bisher Mächtige einfach nur einen Teil ihrer Macht? Und das beklagen sie in ihren alten Kanälen. Unternehmen, Medien, PR-Berater etc. werden weniger mächtig? Das Digitale ist Sand im Getriebe der althergebrachten massenmedialen Wirklichkeitskonstruktion. Eben das ist die versprochene Social Media Revolution.
Digitalisierung verändert die Bedingungen der Zeicheninterpretation
Ganz so einfach ist die Lösung leider nicht. Und darum kann die semiotische Denkweise sehr hilfreich sein. Darum muss Semiotik aufgefordert sein, sich intensiv mit Digitalisierung auseinander zu setzen. Aber welchen Phänomenen muss sich die Semiotik annehmen und welche Gedanken kann sie schon dazu beisteuern? Drei Punkte sehe ich als besonders wichtig an. Dies sind:
- Die Vervielfältigung und Beschleunigung von Zeichenproduktion und Interpretationsanreizen durch die technische Zeichenproduktion und -verteilung
- Resonanzeffekte und mediale Belohnungen, die die digitalen Systeme erzeugen können
- Die Tatsache, dass sowohl in den Bildungseinrichtungen und damit auch bei der nachwachsenden Generation eine didaktische und kritische Kompetenz – die auch eine semiotische sein muss – fehlt. Diese braucht es, um die Phänomene bewerten und einordnen zu können. Das wird ggf. noch verstärkt, dadurch dass die digitalen Medien nicht von sich aus die kritische Auseinandersetzung mit ihnen belohnen
Die Diskussion ist wie gesagt nicht neu und wurde wahrscheinlich bei jeder medialen Entwicklung seit dem Buchdruck über das Kino bis zum Privatfernsehen geführt. Trotzdem darf und muss man sich fragen, ob sich die aktuelle technisch-mediale und ökonomische Entwicklung von den vorherigen unterscheidet. Und ob die Unterschiede graduell oder grundsätzlich sind.
Beschleunigung: zu schnell für unser Steinzeitgehirn?
Ich möchte hier einen genauen Blick auf den Punkt Beschleunigung werfen. Eine wesentliche Grundlage semiotischen Denkens – an anderer Stelle hatte ich diese ja schon mal in Form von Axiomen zusammengefasst – ist das menschliche Streben nach Sinnkonstanz. D.h. wir alle arbeiten daran, aus allen Sinneseindrücken, Wahrnehmungen und Kommunikationsangeboten, die auf uns einströmen, eine für uns sinnhafte und konsistente Welt zu erschaffen. Dass die schiere Zahl dieser Angebote durch die Digitalisierung enorm gewachsen ist und weiter wächst, ist unstrittig. Auch dass sich unsere physiologischen und psychischen Fähigkeiten nicht entsprechend, zumindest nicht entsprechend schnell entwickeln, steht dem gegenüber. Oft wird ja vom Steinzeitgehirn gesprochen. Das führt einfach gesagt dazu, dass ich immer mehr Eindrücke immer schneller einordnen muss. Für kritische Reflektion bleibt da oft keine Zeit.
Bauchgefühl, Intuition oder Abduktion: so kommen wir zu richtigen Interpretation
Da nutzen wir dann zwei Mechanismen besonders intensiv, die sich bei der Einordnung von Wahrnehmungen evolutionär sehr gut bewährt haben. Erstens wird die erste, spontane Interpretation als die richtige Interpretation genutzt. Zweitens passe ich eine Wahrnehmung, das Zeichen an, damit es zu meinem bisherigen Weltwissen passt.
Der Verhaltensforscher Gerd Gigerenzer hat in seinen Forschungen ausführlich den Nutzen und die Qualität der Bauchentscheidungen herausgearbeitet. Kurz gesagt Intuition schlägt Halbwissen. Oder wenn es quakt wie eine Ente, läuft wie eine Ente und aussieht wie eine Ente, wird es eine Ente sein. Irgendwie die naive Version von Ockhams Rasiermesser. Das Lob der Bauchentscheidungen nimmt eine Gegenposition zu den Thesen der Verhaltensökonomie ein, die in zahlreichen Untersuchungen die Unzulänglichkeit des Menschen im Vergleich zum rationalistischen Ideal des Homo oeconomicus postuliert hat. Bekanntester Vertreter dieser Forschungsrichtung ist sicher Daniel Kahneman.
Zeichen als Werkzeug: was nicht passt, wird passend gemacht
Auch der zweite Mechanismus, dass ich zum Verstehen und Einordnen das Wahrgenommene aktiv verändere, ist kein Effekt der Digitalisierung. Der Psychologe und Sprachforscher Karl Bühler hat schon in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zwei Effekte innerhalb seines Organon-Modells beschrieben. Bei der Nutzung von Sprachen und Zeichen als Werkzeug – als Organon – der Welterfassung, lassen wir Aspekte des Zeichens beiseite, die uns im Moment nicht zweckdienlich erscheinen. Gleichzeitig fügen wir von uns aus dem Zeichen Aspekte hinzu, die es für uns stimmiger machen. Das macht Zeichen und Kommunikation robuster und das Werkzeug damit einsatzfähiger.
Dem Wunsch nach Sinnkonstanz entsprechend würde ich Ihnen jetzt natürlich gerne eine einfache stimmige Auflösung des Ganzen anbieten. Was ist zu tun, was ist zu lassen? Was sind die Auswirkungen? Welche davon sind negativ und mit welchen Mitteln lassen sie sich verhindern?
Offene Gesellschaft bedeutet wankende Weltbilder
Ein Aspekt ist sicher, dass wir auch früher mit schnellen Interpretationen gelebt haben, die sich bei einer gründlichen, differenzierten Betrachtung als falsch erwiesen hätten. Der Hauptgrund, warum das kein Problem war, war dass in der Regel Menschen, die zusammengelebt haben, ihre schnellen Interpretationen geteilt haben. Soziale Kontrolle, sozialer Austausch, geringere Mobilität und höhere Stabilität in den Gemeinschaften führten zu ähnlichen Weltbildern. Kommunikation wirkte eher stabilisierend, was das Weltbild anging. Wer hier mehr erfahren möchte, kann das bei Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolution und bei Peter Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit nachlesen.
Heute ist das gerade nicht mehr so. Durch soziale, räumliche und mediale Mobilität komme ich viel häufiger in Berührung mit abweichenden Weltinterpretationen. Nicht nur fällt die stabilisierende, soziale Kontrolle weg, es kommt zur permanenten Infragestellung und zum Rechtfertigungszwang meines Weltbildes. Das erzeugt zunehmenden individuellen und gesellschaftlichen Stress mit den Auswirkungen, die Sie täglich in den Nachrichten und den sozialen Medien sehen können.
So denken nur Akademiker: Problem erkannt, Problem gebannt
Das ist jetzt zwar eine in sich stimmige Erzählung zu dem, was gerade in der digitalen Welt passiert. Aber eben noch keine, nicht mal ansatzweise Lösung für die Probleme und handfesten Einschränkungen für unser aller Leben. Für hier und heute muss ich es bei einer akademischen Meta-Lösung belassen. Mit der Aussage: wir haben das Problem verstanden.
So unbefriedigend das im Moment für Sie ist, es gibt die ganz einfachen Handlungsanweisungen nicht. Klar ist, dass pauschale Hysterie sicher verkehrt ist. Und dass eine genaue, kritische Begleitung sowohl der individuellen als auch der gesellschaftlichen Aspekte extrem wichtig ist. Dass dafür Ressourcen bereitstehen müssen. Und dass Semiotik für so eine kritische Begleitung sicher sehr hilfreich ist.
Die handfesten Lösungen sowohl für die private als auch die professionelle Praxis sind meiner festen Überzeugung nach zukünftig eher von den Humanwissenschaften als den Ingenieurswissenschaften zu erwarten. Allerdings nur wenn sich diese, wie das hier vertretene Programm der Digital Semiotics, breit und dabei kompetent der technischen Entwicklung öffnen.
Wir werden in dieser Reihe zu den großen und kleinen Phänomenen digitaler Kommunikation und Wirklichkeitskonstruktion sicher unseren Beitrag leisten. Dazu freuen wir uns natürlich über Ihre Reaktionen, egal wie freundlich oder kritisch sie ausfallen. D.h. wie sehr sie auch mein Weltbild erschüttern werden.